Wie können Christen Menschen, die kaum Kontakt zu einer Gemeinde haben, mit der Frohen Botschaft erreichen? Welche überraschenden und neuen Formen von Kirche sind vielversprechend? Das überlegte sich aus das Potsdamer Pfarrerehepaar Mathias und Janina Kürschner. Sie haben für ihre Nachbarschaft ein ganz spezielles Format entwickelt – mit Erfolg.
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, rät der österreichische Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) – wohl mit einem Augenzwinkern. Doch was ist das Richtige, wenn man in eine Situation gerät, für die es kaum Vorlagen gibt? 2011 wurde ich als Pfarrer um eine Vakanzverwaltung in einer Potsdamer Gemeinde gebeten, die in der Zeit vor der Friedlichen Revolution in der sogenannten „verbotenen Stadt“ am Cecilienhof lag. Das war ein durch Russen abgeteiltes und ummauertes Villenviertel, in dem ihre Geheimdienste und auch das berüchtigte Militäruntersuchungsgefängnis untergebracht waren. Bei der Besetzung im Sommer 1945 mussten sämtliche Bewohner von heute auf morgen ihre Häuser räumen, und über 40 Jahre hat kaum ein Deutscher gewusst, was sich in diesem Viertel überhaupt abspielt. Für die Kirchengemeinde, die nur über einen schmalen Korridor auf ihr Kirchengrundstück gelangen konnte, war die Zeit des Kalten Krieges dadurch besonders anschaulich. Den sprichwörtlichen „Russen“ hatte man stets vor Augen, und Christsein in der DDR noch einmal eine gesteigerte Eindrücklichkeit. Als nun nach Mauerfall und Abzug der Russen das Viertel 1994 wieder für die Zivilbevölkerung offen stand, kehrten die zumeist in den Westen geflohenen großbürgerlichen bzw. adligen Besitzer nach und nach in die Stadt zurück, um ihre Villengrundstücke wieder in Besitz zu nehmen. Darüber hinaus ließen sich mittelständische Unternehmer, Künstler, Schauspieler, hochrangige Militärs und Politiker in dem Viertel nieder, die die rasch in die Höhe schießenden Immobilienpreise bezahlen konnten.
Zuzügler wurden nicht erreicht
Für die Kirchengemeinde bedeutete dies, dass man es im Grunde fortan mit zwei nebeneinander lebenden Parallelgesellschaften zu tun hatte: der alteingesessenen DDR-Bevölkerung mit ihrer spezifischen Wendeerfahrung und den großbürgerlichen Rückkehrern bzw. Zuzüglern, die soziologisch zumeist ein „Hochperformer-Milieu“ repräsentierten. Letztere waren für die klassischen DDR-geprägte Gemeindearbeit mit ihrer eigentümlichen Ästhetik kaum zu gewinnen. Man lebte in ganz anderen Denk- und Wohnwelten. Man hatte andere Freizeitgewohnheiten und natürlich auch ganz andere finanzielle Möglichkeiten. Und was entscheiden war: Man hielt zum christlichen Glauben meist eine wohlwollend-vornehme Distanz. Praktisch gesprochen: Die Kinder schickt man in den Konfirmandenunterricht. Denn der pädagogische Nutzen religiöser Erziehung für die eigenen Kinder wird gesehen und bejaht. Aber da die Pädagogik nun einmal mit dem Kindesalter endet, geht man als Erwachsener nur im Notfall zur Kirche, es sei denn, ausgewählte Fest- und Feiertage bestätigen die Regel.
Das Großbürgertum braucht die fantastische Botschaft
Was tut man also, wenn man diese Gruppe von Großbürgerlichen nicht preisgeben möchte, wie es die evangelische Kirche faktisch tut? Schon im Studium wurde uns seinerzeit deren kirchensoziologische Milieuverengung auf das (Klein-)Bürgertum quasi als Naturgesetz vermittelt: Arbeiter und Großbürgertum kommen so gut wie nicht im evangelischen Gemeindeleben vor. Daran ließe sich auch nicht viel ändern …
Meine Frau und ich suchten dann nach einem Veranstaltungsformat, das diese Menschen, die ja unsere Nachbarn sind, möglicherweise doch erreichen könnte. Schließlich haben wir es im Evangelium mit einer fantastischen Botschaft zu tun, die auch Menschen etwas zu sagen hat, die in Leistungs- und Wettbewerbsparadigmen denken, die die Zwänge großer beruflicher Verantwortung kennen, auch die damit verbundene Einsamkeit von Entscheidungen. Die zweifelsohne einen Sinn für das Schöne besitzen, aber gerade im Gespräch durch Zeitmangel, Konvention und Etikette wenig Gelegenheit dazu finden, über das Schöne und Wahre und auch Ernste unseres Lebens nachzudenken.
Ein Salon in einer Villa
Übliche Vortragsveranstaltungen, die auch diverse christliche Organisationen, wie die „Internationale Vereinigung Christlicher Geschäftsleute und Führungskräfte“ (IVCG), favorisieren, schienen uns kaum vielversprechend. Denn unsere Nachbarn werden durch gesellschaftliche Anlässe und berufsinterne Fortbildung mit derartigen Angeboten geradewegs zugeschüttet. Zu kurz kommt dagegen das persönliche Gespräch. Das Nachdenken über das „große Ganze“, mittel- und langfristige Lebensziele und die Vision vom eigenen gelungenen Leben.
Wir probierten es daraufhin mit einem Salonformat, angelehnt an die großen Pariser und Berliner Salons des 19. Jahrhunderts. Wir laden in eine Villa in unserem Stadtviertel ein, die uns ein älteres christlich motiviertes Ehepaar für den Abend zur Verfügung stellt. In seinem Wohnzimmer ist Platz für 50 Gäste, die weniger Schwellenängste verspüren, in diesen persönlichen und für sie gewohnt exklusiven Rahmen eingeladen zu werden als in ein Gemeindehaus, das den Charme der 60er Jahre und auch die einschlägigen Linoleumgerüche dieser Zeit atmet.
aus: ideaspektrum 7/2020
und dem persönlichen Blog von Mathias Kürschner http://gruenderzeit-potsdam.de/der-salon-in-potsdam/
Fresh X in Potsdam: Während einer Vakanzvertretung entsteht die Idee für einen Vortrags- und Begegnungsabend für die Menschen in unserem Gründerzeit-Viertel. Aus Menschen wurden dann Nachbarn. Und aus Nachbarn Freunde.